Es ist schon spät. Du bereitest dich darauf vor, ins Bett zu gehen. Du hast dir bereits die Zähne geputzt, alle Lichter zu Hause ausgeschaltet und bist nun im Bett. Es ist bereits 23 Uhr - du brauchst dich nur noch umzudrehen und langsam einzuschlafen. Dennoch hast du dein Handy herausgeholt. Du wolltest mal nachsehen, ob es online etwas Interessantes gibt. Ob auf Tiktok, Instagram, Snapchat, YouTube oder Facebook - eine große Auswahl steht vor dir. Du scrollst durch Reels mit Tiere, Sport, Neuigkeiten, Animationen, Filmausschnitte, Werbungen - es scheint unbegrenzt. Du drehst dich um und siehst, dass es bereits nach 1 Uhr ist. Du hast die letzten 2 Stunden mit dem Durchscrollen von Inhalten verbracht, an die du dich kaum noch erinnern kannst. 

 

Die endlose „Slot-Maschine“

Diese Situation wird den meisten von uns, wenn auch mit leichten Abweichungen, bekannt vorkommen. In der heutigen hypervernetzten Welt ist die Inhaltssucht, die oft mit der Internetsucht vermischt wird, die sich früher auf Computer- und Videospiele bezog, zu einem bedeutenden Problem geworden. Die ständig verbesserten technischen Möglichkeiten von Mobiltelefonen haben mit der Zeit eine neue Bedeutungsebene hinzugefügt. Von Social-Media-Plattformen bis hin zu endlosen Strömen von Videos und Artikeln, die uns ständig zur Verfügung stehen, hat sich unser täglicher Umgang mit dem Digitalen zu etwas entwickelt, dessen wir uns noch gar nicht bewusst sind und das unser Wohlbefinden in einer Weise beeinflusst, die wir erst in den kommenden Jahren und Jahrzehnten herausfinden werden.
 

Der Konsum digitaler Inhalte, insbesondere über soziale Medien, löst im Gehirn eine Dopaminausschüttung aus, die der Wirkung von Drogen wie Kokain ähnelt. Dieser Neurotransmitter, der mit Vergnügen und Belohnung verknüpft ist, schafft eine Rückkopplungsschleife, bei der die Nutzer ständig nach mehr Inhalten suchen, um ihre vergnüglichen Gefühle aufrechtzuerhalten. Dr. Anna Lembke bezeichnet in ihrem Buch „Dopamine Nation“ das Smartphone als „moderne Injektionsnadel“, weil wir „mit jedem Wischen, jedem Like und jedem Tweet nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und Ablenkung suchen“.
 

Es hat etwas mit der „Suche“ nach Befriedigung zu tun, bei der Dopamin aktiviert wird, oder mit dem Suchtpotenzial jeder Erfahrung. Mit anderen Worten: Es ist nicht allein die Tatsache, dass wir ein Video sehen, die Freude auslöst, sondern die Aussicht darauf, dass dieses Video stimulierend werden kann. Wir suchen die Aufregung nicht nur, um sie zu finden, sondern auch, um sie zu suchen.
 

Technologieunternehmen wie Facebook, YouTube und Instagram haben es meisterhaft verstanden, unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Ihre raffinierten Algorithmen sind so konzipiert, dass sie das Beste aus dem Engagement der Nutzer herausholen, indem sie emotional aufgeladenen Inhalten den Vorrang geben, oft auf Kosten ausgewogener Informationen. Funktionen wie unendliches Scrollen und Autoplay sorgen dafür, dass es keinen natürlichen Haltepunkt gibt, wodurch die Nutzer animiert werden, mehr Zeit auf diesen Plattformen zu verbringen. David Greenfield zufolge kann dies als „ Slot-Machine“- Effekt verstanden werden, bei dem man eine Belohnung erhält, ohne jemals wirklich zu wissen, welche Belohnung es ist, was wiederum zu einer endlosen, kontinuierlichen Suche nach Befriedigung führt, die immer verfügbar und unerschöpflich ist.

 

Die Auswirkungen der Inhaltssucht auf das Leben der User scheinen erheblich zu sein. So weisen beispielsweise Studenten, die sich intensiv mit digitalen Inhalten, insbesondere mit sozialen Medien, beschäftigen, in der Regel schlechtere akademische Leistungen auf. Eine weitere Studie mit chinesischen Studenten ergab, dass sich das Format von Kurzvideos direkt auf  die verringerte Aufmerksamkeitsspanne sowie die intrinsische und extrinsische Lernmotivation auswirkt. Es ist nicht ein bestimmtes Video oder eine bestimmte Filmrolle, die uns beeinflusst, sondern die Ähnlichkeit des Formats aller Videos und unser Bewusstsein darüber.

 

Das Paradoxon der Konnektivität

Während digitale Plattformen Kommunikation erleichtern, können sie andererseits die Qualität des persönlichen Austauschs verringern. Eine starke Abhängigkeit von der digitalen Kommunikation führt oft zu einer Verringerung der menschlichen sozialen Verbundenheit. Nach der Definition des österreichischen Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz beispielsweise erhöht eine „Handy-Sucht“ die Distanz und das Scheitern der Kommunikation bei denjenigen, deren einzige akzeptable Form der Kommunikation digitale Geräte sind. Obwohl sich die Nutzer online stärker verbunden fühlen, können sie sich offline stärker isoliert fühlen, was die paradoxe Bedeutung der digitalen Konnektivität unterstreicht.
 

Außerdem hat sich herausgestellt, dass nicht nur die jüngere Generation, sondern auch die „Elterngeneration“ davon betroffen ist. Was David Pontefract als „Game of scrolls“ bezeichnet, hat anscheinend auch die älteren Generationen erfasst. „Ich sehe es ständig. Bei Fußballspielen, in öffentlichen Restaurants, Parks, bei Picknicks und so weiter. Viel zumviele Eltern können sich nicht davon abhalten, Inhalte zu konsumieren, während sie mit ihren Kindern zusammen sind. Sie haben aufgehört, ihren Kindern Aufmerksamkeit zu schenken". Es sind also nicht nur die Kinder und Jugendlichen, die die Auswirkungen dieses Wandels zu spüren bekommen, sondern eigentlich alle Generationen. Das bedeutet, dass die Inhaltssucht auch als ein Problem verstanden werden sollte, das die Generationen betrifft und sich nicht nur auf die „Generation X“, die „Millenials“, die „Generation Z“ usw. beschränkt.
 

Der Zusammenhang zwischen dem intensiven Konsum digitaler Inhalte und psychischen Problemen ist ebenfalls gut dokumentiert. Die übermäßige Nutzung sozialer Medien korreliert mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Angstzuständen, Depressionen und Einsamkeit. Der ständige Vergleich mit idealisierten Darstellungen des Lebens anderer kann zu Gefühlen der Minderwertigkeit und geringem Selbstwertgefühl führen. Depressionen sind nichts Neues, da sie in den letzten dreißig Jahren in den Industrieländern immer häufiger auftreten. Anna Lembke zufolge rührt die Angst daher, dass man nicht in der Lage ist, sich allein mit den eigenen Gedanken zu beschäftigen, was ständige „Unterbrechungen unserer selbst“ erfordert. Für viele hat gerade die Pandemie die Abhängigkeit von sozialen Medien und anderen digitalen Lastern sowie von Alkohol und Drogen verstärkt.

 

Wie weiter?

Es zeigt sich, dass die Messung der Inhaltssucht zwar hilfreich ist, aber keine endgültigen Antworten liefert. Offensichtlich ermöglicht uns das Vorhandensein und die rasche Entwicklung von Mobiltelefonen einen wesentlich größeren Zugang zur Welt. Es gibt jedoch
eine Kehrseite - es scheint auch, dass unsere Nutzung dieser Initernet-Welt auf die Verfügbarkeit beschränkt geblieben ist. Dennoch nutzt nicht jeder das Internet auf die gleiche Art und Weise, weshalb die Behauptung, dass alle Inhalte an sich schlecht sind,
übertrieben wäre. Vielleicht sollten wir das Thema der Inhaltssucht anders angehen. Die Festlegung von Nutzungsbeschränkungen scheint ein Mittel zu sein, das Problem vorübergehend zu bewältigen. Das gilt genauso für die Änderung der Inhalte, die uns der Algorithmus anbietet, indem sie als unerwünscht markiert werden. Obwohl die digitale Revolution viele Vorteile gebracht hat, sollten wir ihre Schattenseiten nicht zum Nachteil unserer selbst werden lassen. Langfristig könnte es günstiger sein, sich mehr auf die Welt um uns herum zu richten. Mit anderen Worten: So unruhig es in einem bestimmten Moment auch sein mag, dass wir zum „Scrollen“ kommen, so sollten wir vielleicht ab und zu den Kopf hochnehmen und das Telefon beiseitelegen. Was sich dadurch definitiv etwas verbessern wird ist unser Schlaf.

 

Quellen:

  1. https://www.theguardian.com/global/2021/aug/22/how-digital-media-turned-us-all-into-dopamine-addicts-and-what-we-can-do-to-break-the-cycle
  2. https://www.nytimes.com/2023/10/25/health/social-media-addiction.html
  3. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC9127725/
  4. https://www.sozialministerium.at/Themen/Gesundheit/Drogen-und-Sucht/Verhaltenss%C3%BCchte/Mediensucht.html
  5. https://www.forbes.com/sites/danpontefract/2018/09/16/device-and-content-addiction-is-ruining-people/

 

Die moderne Pandemie: Inhaltssucht

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